Bauen für den Protest: Zwischen Funktionalität und Symbolik

28. März 2024

NOW, Outside MAK

von Anna Maria Mayerhofer

Die Ausstellung PROTEST/ARCHITEKTUR. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber, ein Projekt des DAM – Deutsches Architekturmuseum und des MAK ­­– Museum für angewandte Kunst, geht der Frage nach, welche Rolle Architektur bei Protesten im öffentlichen Raum spielt. Anna-Maria Mayerhofer aus dem kuratorischen Team der Ausstellung über die baulichen Formen des zivilen Ungehorsams und wie sie Protestbewegungen dabei helfen, ihre Ziele zu erreichen.

Winzige Baumhäuser, weite Plätze überspannende Dachkonstruktionen, Rundhütten, Kuppelzelte, Türme, minimalistische Straßensperren, festungsartige Barrikaden – die ephemeren Bauten, die bei Protesten entstehen, sind in ihrer Form und Funktion so unterschiedlich wie die Proteste selbst. Von den Zielen der Bewegungen, den Rahmenbedingungen und dem Verlauf der Proteste sind sie unmittelbar beeinflusst: An welchem Ort wird protestiert? Welche gesetzlichen Bestimmungen gelten? Wie reagiert die Polizei auf die Proteste? Wie ist das Wetter? Welche Materialien sind verfügbar?

In einer Art Rückkopplungsschleife spielt Protestarchitektur wiederum für den Fortgang der Proteste eine wesentliche Rolle. Bisweilen lässt sich der Erfolg einer Bewegung auf das Funktionieren ihrer Protestarchitektur zurückführen: Im Hambacher Wald etwa verzögerte 2018 die aufwendige Räumung der über 100 hoch in den Baumkronen sitzenden Baumhäuser den Einsatz der Polizei. 50.000 Unterstützer*innen konnten für eine Demonstration gegen die Abbaggerung des Geländes für den Kohleabbau mobilisiert werden. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster stoppte die Rodung des Walds.

Readymades

Die häufigste Bauform bei Protesten ist das Kuppelzelt. Weltweit gibt es heute kaum noch Protestcamps ohne die leicht zu errichtenden und überall verfügbaren Readymades. Auch sonst sind Protestbauten häufig mobile, funktionale Architekturen, deren Bestandteile von zu Hause mitgebracht, von Unterstützer*innen gespendet oder auf Sperrmülldeponien gesammelt werden. Farmer*innen in Indien bauten bei Straßenblockaden ihre Traktorwägen in teils mehrgeschossige, komfortable Unterkünfte um und parkten sie so, dass kleine Höfe entstanden, die mit Planen überspannt wurden. Auf drei wichtigen Zufahrtstraßen von Delhi entwickelten sich 2020 so innerhalb weniger Tage kilometerlange Protestcamps.

Doch nicht nur die rasche Ausbreitung und schiere Größe von Protestsiedlungen, auch einzelne Bauwerke erzielen teils viel mediale Aufmerksamkeit: Bunte Zirkuszelte, die seit einigen Jahren bei den Klimacamps der zentraleuropäischen Umweltbewegung auftauchen, wurden zum Erkennungszeichen der geplanten Protestsiedlungen. Die Ästhetik des Protestcamps von Occupy Wall Street prägten nicht nur die textilen Zelten und Planen der Besetzer*innen, sondern auch die Gegenmaßnahmen der New Yorker Polizei: Mithilfe von unzähligen Absperrungen sowie einem mobilen „Skywatch“-Überwachungsturm kontrollierten Polizist*innen das Camp vom Bürgersteig aus. Denn es befand sich auf einem in Privatbesitz befindlichen öffentlichen Platz, ein Ort, für den sich die Protestierenden ganz bewusst entschieden hatten.

Ingenieurskunst

Protestarchitektur entsteht meist in kurzer Zeit und aus einem Mangel an Mitteln heraus. Viele bauliche Strukturen sind einfache Rahmen- und Stangenbauten, die je nach verfügbaren Baumaterialien mit Textilien, Holzplatten oder Brettern verkleidet werden. Nicht selten werden bei Protesten aber auch außergewöhnliche Konstruktionen entwickelt und mit großem baukonstruktivem Geschick umgesetzt. So wurde auf der Puerta del Sol in Madrid 2011 ein den gesamten Platz überdeckendes Zeltdach aus gespannten Seilen und Planen errichtet, das an die Olympiabauten von Behnisch & Partner und Frei Otto in München erinnert. Ausgefeilte Barrikaden entstanden in Kyjiw im Winter 2013/14 aus Autoreifen, Sperrholz, Pflastersteinen, Sandsäcken und Stacheldraht. An kalten Tagen wurden sie mit Wasser übergossen und durch das dabei entstehende Eis zusätzlich stabilisiert.

Im Hambacher und Dannenröder Wald konstruierten die Aktivist*innen mehrstöckige Baumhäuser in bis zu 35 Metern Höhe auf zwischen mehreren Stämmen eingebundenen Plattformen. Das Bauen mit Seilen und Knoten ist nicht nur materialsparend und schützt die Bäume, sondern erleichtert auch den Rückbau und die Wiederverwendung vieler Materialien. Die komplexen Tensegritystrukturen, die unter anderem die Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion bei Straßenblockaden verwendet, werden vormontiert und dann zum Ort der Protestaktion transportiert.

Entwürfe von Planer*innen

Während die meisten Protestbauten spontan und aus dem Kollektiv heraus entwickelt werden, beteiligen sich manchmal auch Planer*innen beim Bau. Dass dies jedoch keine Erfolgsgarantie beinhaltet, zeigen die Proteste im Rahmen der US-amerikanischen Menschenrechtskampagne Poor People’s Campaign im Jahr 1968. Die dafür errichtete „Resurrection City“ in Washington DC wurde von vier Architekten als klassische Planstadt entworfen. Freiwillige hatten die 650 A-Frame-Häuser vorgefertigt und gemeinsam mit den Bewohner*innen zusammengebaut. Doch nachdem das Protestcamp in Dauerregen und Matsch versank und nur noch wenige dort wohnten, gab es Probleme mit Kriminalität, Vandalismus und Überfällen. Als die sechswöchige Genehmigung auslief, räumte die Polizei die Siedlung.

Bei der brasilianischen Bewegung obdachloser Arbeiter*innen MTST dagegen hat die professionelle Organisation von Grundstücksbesetzungen maßgeblichen Anteil am Erfolg. Ein Team von Koordinator*innen plant die Besetzungsaktionen im Vorhinein, anschließend steckt der „Architektursektor“ der Bewegung am ersten Tag lange Wege und dazwischenliegende Bereiche für die Errichtung von Hütten ab. Zeltstädte mit einem überraschend regelmäßigen Grundriss sind die Folge. Im Fall der Lobau bleibt-Proteste stach eine von einem Planer entworfene hölzerne Pyramide nicht nur aufgrund ihres hohen Komforts ins Auge – dank der dicken Strohdämmung konnten Besetzer*innen dort die kalten Wintertage verbringen –, ihre ikonische Form ließ die zweigeschossige Hütte schnell zum Signet der Bewegung werden.

Nicht selten bleiben die Planer*innen solcher Protestbauten anonym – um Repressionen zu entgehen, aber auch weil viele Bewegungen sich Hierarchien, die unter anderem durch unterschiedliche Vorerfahrungen entstehen, entschieden widersetzen. Die vom Architekten Gottfried Semper während des Dresdner Maiaufstands von 1849 entworfene „Semper-Barrikade“ erwies sich zwar als uneinnehmbar, Semper war nach der Niederschlagung der Aufstände jedoch gezwungen, ins Exil zu gehen.

Verzögerungsarchitekturen

Ab einer Höhe von 2,50 Metern müssen in Deutschland und Österreich bei der Räumung von Protestbauten speziell ausgebildete Polizeikräfte eingesetzt werden. Diese Regel prägt nicht nur den Ablauf der Räumungen selbst, sondern bringt auch besondere Bauformen hervor, sogenannte Verzögerungsarchitekturen. Sie sollen die Räumung einer Besetzung in die Länge ziehen, den Polizeieinsatz dadurch teurer machen und den Druck auf Entscheider*innen vergrößern, den Forderungen der Protestierenden nachzukommen. Die Errichtung von Baumhäusern ist daher bei Waldbesetzungen seit Jahrzehnten eine beliebte Proteststrategie. Aus Sicherheitsgründen darf die Polizei die Strukturen der Protestierenden nicht betreten und muss mit Hebebühnen anrücken. Nähern sich sogenannte „Kletter-Cops“, entwischen die Besetzer*innen über gespannte Seile und Luftbrücken auf andere Strukturen.

Auch eine Art Verzögerungsarchitektur sind die Minibarrikaden aus drei aufeinander gestapelten Ziegelsteinen, die Protestierende in Hongkong 2019 bei Straßenkämpfen mit der Polizei aufstellten. Sie sollten Polizeifahrzeuge an der Durchfahrt hindern. Tatsächlich waren die „Mini-Stonehenges“ weniger als Barrikaden effektiv, sondern brachten vielmehr die dynamische Aneignung des Stadtraums durch die Protestierenden zum Ausdruck. Denn nicht zuletzt hat Protestarchitektur immer auch eine symbolische Wirkung. Im besten Fall kann durch die mediale Verbreitung von den Bildern der Bauten zusätzliche Aufmerksamkeit für die Anliegen der Protestierenden generiert werden. Das funktionierte bei den fotogenen Baumhäusern im Hambacher Wald und den Ziegelbarrikaden von Hongkong ähnlich gut wie bereits bei den Barrikaden im 19. Jahrhundert, die als Holzstiche und Lithografien in Zeitungen reproduziert wurden.

Anna-Maria Mayerhofer ist Curatorial Assistant am Deutschen Architekturmuseum (DAM). Ihr Blogeintrag basiert auf der gemeinsamen Arbeit des kuratorischen Teams der Ausstellung PROTEST/ARCHITEKTUR. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber.

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